Erythropoese
1 Definition und Begriffsklärung der Erythropoese
Unter Erythropoese versteht man den Prozess der Bildung reifer Erythrozyten aus pluripotenten hämatopoetischen Stammzellen. Ziel ist der Erhalt einer ausreichend großen und funktionell intakten Erythrozytenmasse.
Die Erythropoese umfasst proliferative, differenzielle und maturative Schritte und findet beim gesunden Erwachsenen überwiegend im roten Knochenmark des axialen Skeletts statt.
2 Embryonale und extramedulläre Erythropoese
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Dottersack (yolk sac): Erste „primitive“ Welle ca. ab Tag 17 post conceptionem; Bildung großkerniger, nukleierter Erythroblasten in Blutinseln.
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Leber (≈ 6.–28. SSW): Hauptort der „definitiven“ fetalen Erythropoese; hier expandieren HSC(hämatopoetische Stammzelle)-unabhängige sowie -abhängige Vorläufer.
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Milz (späte Fetalzeit): Überlappungsfunktion; liefert Makrophagen-gestützte Mikroumgebung.
Nach der Geburt verlagert sich die Produktion vollständig ins Knochenmark; unter pathologischen Bedingungen kann sie erneut extramedullär (Milz, Leber, lymphatisches Gewebe) aktiviert werden.
3 Knochenmark-Kompartimente
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Teilungszone (Proliferations-Nische): hohe Mitose-Aktivität
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Reifungszone: Bildung von Erythroblasten-Inseln (Makrophage + konzentrische Vorläuferringe).
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Freisetzungszone: Enukleierte Retikulozyten passieren Sinusoide in den Kreislauf.
4 Physiologische Stadien
HSC → BFU-E → CFU-E → Proerythroblast → basophiler Erythroblast → polychromatischer Erythroblast → orthochromatischer Normoblast → Retikulozyt → Erythrozyt
Mit jeder Teilung nehmen Zell- und Kerngröße sowie die basophile Färbung ab, während Hämoglobin akkumuliert. Die Kernausstoßung erfolgt im orthochromatischen Stadium.
Abkürzung Langform (deutsch / englisch) Stellung in der Entwicklung Charakteristika HSC Hämatopoetische Stammzelle / Hematopoietic Stem Cell multipotente Ursprungszelle aller Blutzellreihen selbst-erneuerungsfähig, noch nicht auf eine Linie festgelegt BFU-E Burst-Forming Unit – Erythroid früher erythroider Progenitor bildet in der Methocel-Kultur große „Bursts“ (>5 000 Zellen); relativ niedrige, aber vorhandene EPO-Empfindlichkeit; teilt sich noch vielfach CFU-E Colony-Forming Unit – Erythroid spät-erythroider Progenitor, direkt vor dem Proerythroblasten stark EPO-abhängig, kleinere Kolonien (≈ 8–64 Zellen); letzte teilungsfähige Stufe vor Beginn der morphologischen Erythroblasten-Reihe
5 Merkhilfen und Lernschemata
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„Profs Backen Pommes; Orthodoxe Retter Erscheinen“
- Farbcode der Blutbild-Differenzierung: Blau (basophil) → Lila (polychromatisch) → Rot (orthochromatisch).
6 Hormonelle Regulation
Niedriger Gewebs-pO₂ stabilisiert HIF-α, weil PHD-Enzyme unter Hypoxie inaktiv bleiben. HIF-α/β-Heterodimere induzieren Erythropoetin (EPO)-Transkription in peritubulären Nierenfibroblasten (≈ 90 %) und Hepatozyten (≈ 10 %). EPO bindet anschließend an den EPO-Rezeptor (EPOR) der CFU-E/Proerythroblasten und steigert Überleben, Proliferation und Differenzierung.
7 Molekularbiologische Signalwege
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JAK2-STAT5: Ligandenbindung → JAK2-Autophosphorylierung → STAT5-Aktivierung → anti-apoptotische Gene (Bcl-xL, Pim-1).
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PI3K-Akt-mTOR: fördert Translation, Eisenimport und Globinsynthese.
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MAPK/ERK: proliferatives Signal.
Faktor | Funktion | Defiziteffekt | Typische Laborveränderung |
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Eisen | Häm-Synthese | mikrozytäre, hypochrome Anämie | ↓ MCV, ↓ MCH |
Vitamin B₁₂ | DNA-Synthese, Methylierung | makrozytäre, megaloblastäre Anämie | ↑ MCV |
Folsäure | Purin-/Pyrimidinsynthese | wie oben | ↑ MCV |
Kupfer, Vitamin C, A, B₆ | Eisenmobilisation, Häm-Synthese | ineffektive Erythropoese | variabel |
9 Stress-Erythropoese & Höhenanpassung / akute Anämie
Akuter Sauerstoffmangel (Blutung, Aufenthalt > 2500 m) erhöht HIF-Aktivität → EPO-Spitze innerhalb von 2–3 h, Maximum nach 24–48 h. Parallel werden stress-spezifische Inseln in Milz & Leber gebildet; BMP4, Hedgehog- und SCF-Signale spielen zusätzliche Rollen.
10 Lebensdauer und Abbau reifer Erythrozyten
Die durchschnittliche Zirkulationsdauer beträgt 120 ± 20 Tage. Seneszente Erythrozyten verlieren Flexibilität, exponieren Phosphatidylserin und werden hauptsächlich von Makrophagen der Milz phagozytiert; Häm-gebundenes Eisen wird recycelt.
11 Diagnostische Marker
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Hb, Hkt – globale O₂-Transportkapazität.
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MCV, MCH, MCHC, RDW – Morphologie-indizes.
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Retikulozyten-Index (RI) = (Retikulozyten-% × tatsächl. Hkt / Soll-Hkt).
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Retikulozyten-Produktions-Index (RPI) = RI / Reifungszeit (Tage). Werte < 2 % sprechen für hyporegenerative Anämie.
12 Klinische Störungen
Entität | Pathogenese | Schlüsselbefund |
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Eisenmangel-, B₁₂- , Folsäuremangelanämie | Substratmangel | ↓ Hb, charakt. MCV |
Hämolytische Anämien | verkürzte Lebensdauer | ↑ LDH, ↑ Bilirubin, ↑ Retis |
Dyserythropoese (MDS, Thalassämien) | ineffektive Knochenmarkproduktion | Morphologische Dysplasie. |
Polyglobulie (sekundär) | chronische Hypoxie, EPO↑ | Hkt > 54 %. |
Polycythaemia vera | JAK2-V617F; autonome EPO-unabhängige Produktion | Hb > 16,5/16 g dl; JAK2+ |
13 Medikamentöse & Doping-Aspekte
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Rekombinante EPO-Analoga (α, β, darbepoetin, CERA) zur Therapie renaler, onkologischer und pränataler Anämien.
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HIF-PHD-Inhibitoren (Roxadustat, Daprodustat) stimulieren endogene EPO-Synthese; EU-Zulassung 2024 für CKD-Anämie.
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Doping: Alle EPO-Rezeptor-Agonisten sind in Klasse S2 der WADA-Verbotsliste; Nachweis per PAGE-Isoformtrennung und LC-MS-Methoden.